Pierre-Yves Magerand
„Mittels leichter und luftiger Gebilde, die manchmal sehr klein und mobil sein können und sich oft zu ebener Erde entfalten, hinterfragen die Skulpturen von Pierre-Yves Magerand unsere eigentliche Beziehung zum Wohnen.
In dieser Erforschung, in der sich der Raum wie ein privilegierter Ort des Nachhals zwischen einer gelebten Realität und einer vergrabenen Erinnerung öffnet, beweist sich die wesentliche Erfahrung der Zeichnung.„Pierre-Yves Magerand übersetzt von C. Musterer und D. Perrier
Die Kurzbeschreibung, welche Pierre-Yves Magerand von der eigenen Arbeit gibt, steht auch für die 150 Zeichnungen Pate, die er während seines Stipendiums in Bad Ems gemacht hat. Es sind unprätentiöse Blätter, mit Aquarellstiften gezeichnet.
Das Motiv: Blätter, Blüten und Kieselsteine, die er beim Spazieren gesammelt hat. Was ihn dabei fasziniert ist der Unterschied zwischen der Beständigkeit des Steins und der Vergänglichkeit der Blätter und Blüten, deren Veränderung er bis zum Verfall beobachtet und Tag um Tag zeichnerisch dokumentiert. In der Regel widmet er jedem einzelnen Objekt, respektive dem temporären Zustand eines Blattes einen eigenen Papierbogen. Manchmal werden zwei Blüten oder zwei Kieselsteine gepaart, sozusagen im Zwiegespräch gebracht. Das Motiv entwickelt sich von der Mitte des Blattes aus. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Freiraum um die Darstellung herum. Nie füllt der Gegenstand das Blatt ganz aus. Daher den Eindruck einer absoluten freien Entfaltung und einer außerordentlichen Leichtigkeit. Wie schwebend entfalten sich die Motive auf das sich durch die Wasserfarben wellende Papier. Nur durch ihre Positionierung wird ein Ort bestimmt und der Betrachtungswinkel definiert – ob Aufsicht, Frontalität oder Untersicht.
Widmen wir uns nun den einzelnen Motiven: Die plastische Form der Kieselsteine wird durch ein paar Linien und Schattierungen angedeutet, welche deren Kompaktheit und Plastizität zum Ausdruck bringen, nicht aber ihre spezifische Materialität. Andere Steingebilde sehen mit ihren rosaroten Einsprenkelungen, die wie Perlen in der Masse des Steines eingebettet sind, wie Juwelen aus. Mit anderen Worten: sie neigen dazu ihren ursprünglichen Charakter zugunsten einer anderen Deutung zu verlieren. Dies wird bei den Blättern noch evidenter. Die verwelkenden Blätter verfärben sich bräunlich, ziehen sich zusammen und werden zunehmend spröde und durchlöchert. Manchmal bleiben nur noch die feingliedrigen Skelette des Blattes erhalten. Magerand hält nur die Grundlinien seiner Modelle zeichnerisch fest und bereinigt sie jeglicher Materialität.
Durch die Entmaterialisierung der dargestellten Gegenstände, erreicht Magerand einen Grad an Abstraktion, der die Gedanken für Assoziationen frei setzt. Nicht Kieselsteine und Blätter erfasst das Auge des Betrachters, sondern abstrakte Formen, die im Spiel mit dem geworfenen Schatten skurrile Wesen ins Leben rufen. Hier glaubt man den Kopf eines fliegenden Elefanten, dort ein Liebespaar oder noch einen tänzerischen Kampf zwischen dem Mädel und den Tod zu erkennen. In „Promenades intérieures„ – Spaziergänge ins Innere wie Magerand diese Serie benennt – öffnet er den Blick für das Unsichtbare, lädt ein unscheinbare Objekte – oder besser gesagt, deren kalligrafische Umsetzung – zu erforschen, um durch sie Wege zu vergrabenen Erinnerungen frei zu setzen und neue Impulse zu gewinnen. Der Weg über die Abstraktion führt hier zu einer neuen Inhaltlichkeit, fernab der ursprünglichen Realität der organischen Objekte aus denen die Zeichnungen hervor gegangen sind. Die Dokumentation der Verwesung der Blätter und der darin beinhalteten Botschaft der Vergänglichkeit verwandelt sich in ein Sinnieren über neue Formen, die für jeden eine andere subjektive Botschaft beinhaltet.
Danièle Perrier, in Balmoral Jahrbuch 2005/2006, Künstlers (Glücks)spiel, S. 82