Im Zeichen der Unendlichkeit
Betrachtungen zum Werk von Bjoern Drenkwitz
Ein bunter Drachen schwebt in der Luft und zeichnet eine liegende Acht am wolkenlosen, blauen Himmel. Es bedarf sicher einer hohen Fertigkeit um die Kunstfigur in vollkommener Form zu vollenden und dennoch vermittelt sie den Eindruck, dass nichts einfacher ist als das. Der Drachen braucht dazu nur sechs Sekunden. Sechs Sekunden, um das Symbol der Unendlichkeit virtuell darzustellen: ein Paradox. Im gezeigten Video wiederholt sich die Bewegung unendlich und zieht das Auge in ihren Bann. Es zeichnet automatisch die Achter-Bewegung nach und sucht, zunächst gebannt, nach Differenzen in der Ausführung. Langsam wird es eingelullt und entwickelt ein Gefühl für Unendlichkeit, oder wendet, von der steten Wiederholung gereizt, den Blick ab.
Unendlichkeit ist für uns Menschen nicht wirklich vorstellbar. On Kawara hat versucht, die Unermesslichkeit des Unendlichen in „one million years before, one million years after“ begreifbar zu machen. In dieser schwer vorstellbaren Zeitspanne, gibt es ein „Davor“ und ein „Danach“. Das wiederum verweist auf ein „Dazwischen“, und zwar auf den bestimmten Moment am Schnittpunkt der nach rückwärts gewendeten und nach vorwärts gezählten Millionen Jahre. Die Zeit wird hier linear dargestellt, als „unendlich“ lange Dauer vor und nach einem bestimmten Ereignis und verweist so auf die Einmaligkeit des dazwischen geschobenen „Jetzt“.
Auch die Unendlichkeitsschlaufe im Video weist einen Schnittpunkt auf, mit dem Unterschied, dass er das Bindeglied zwischen den beiden Schlaufen bildet, nicht einen Trennpunkt. Er ist der immer wiederkehrende Punkt im geschlossenen Kreis der unendlichen Bewegung. Während On Kawara die Last der Zeit darstellt, zeichnet Drenkwitz ein unbeschwertes Bild der Unendlichkeit. Das hat damit zu tun, dass das Unendlichkeitssymbol durch einen fliegenden Drachen gebildet wird, also durch einen sportlichen Akt, den wir mit Vergnügen assoziieren und auch weil es, aus der Distanz betrachtet, spielerisch im unendlichen Blau des Himmels visualisiert wird. Daraus entsteht der Eindruck von Unbekümmertheit Dingen gegenüber, die der Mensch ohnehin nicht verstehen kann. Vielmehr wird dieser durch die aktive Beteiligung an der Gestaltung des Unendlichkeitssymbols selbst Teil dieser Unendlichkeit.
Die Installation Prybjat besteht aus einem schwarzweißen Foto, das während des zweiten Weltkrieges aufgenommen wurde und im Ausstellungsraum dicht über dem Boden an der Wand hängt. Zu sehen ist ein Mann, der in einer schneebedeckten Landschaft auf einer aus Birkenästen gefertigten Bank sitzt. In der Ferne erkennt man einen Wohnblock; Ein paar Bäumchen und Sträucher vermitteln den Eindruck einer verlassenen Gegend in den weiten Ebenen Russlands. Tatsächlich wurde die Aufnahme in der russischen Stadt Prybjat aufgenommen. Vor dem Foto steht eine Kerze auf dem Boden, die warmes Licht verströmt. Das Foto wird von dem durch die Kerze erzeugten Lichtschein beleuchtet, von einer Videokamera gefilmt und an einen an der Wand befestigten Beamer übertragen. Dieser wiederum projiziert das Foto im Widerschein der Kerze groß auf die Wand. Davor steht eine Bank, auf der der Betrachter Platz nehmen kann.
Auffallend an dieser Installation ist die Mise en Scene: Die aufgestellte Kerze ist ein wesentliches Inszenierungsmittel: Sie steht zwischen dem Foto und der Videokamera, ohne dabei im Winkel der Aufnahme zu stehen. Ihr Licht erleuchtet das Bild. Hier blickt man hinter die Kulissen der improvisierten und intimen Sphäre der Filmproduktion. Der Besucher will wissen, was auf diesem kleinen Foto zu sehen ist und tritt näher. Indem er dies tut, erzeugt er einen Luftzug, der das Kerzenlicht zum Flackern bringt. Dadurch wirkt das auf die Wand projizierte Foto leicht bewegt, wie in alten Filmen. Der Betrachter wird ohne sein Wissen zum Mit-Gestalter der Projektion. Gleichzeitig wird er, wie im Kino, eingeladen, sich auf die Bank zu setzten und der Vorführung beizuwohnen. Die Bank ist ein genauer Nachbau der Birkenbank auf dem Foto. Der Betrachter befindet sich also in einer vergleichbaren Situation wie sein unbekanntes vis–à–vis und sitzt ihm Aug in Aug gegenüber. Er wird sozusagen auf die Bühne geholt und animiert, sich in die Situation des Dargestellten zu versetzen. Es entsteht eine Kommunikationssituation zwischen Bild und Betrachter, ein Versuch örtliche und zeitliche Distanz zu überwinden. Es konfrontiert auch die Generation der Enkel mit jener der Großeltern, die das Schweigen über Jahrzehnte gewahrt haben und die vielen Fragen der Nachkommen nie beantwortet haben. Auch wenn das lodernde Kerzenlicht der Projektion einen Hauch Bewegtheit verleiht, wie um das Schweigen scheu zu brechen, gibt der Mann auf dem Foto seine Geschichte nicht preis. Man erfährt weder wer die Person ist, noch warum sie da verloren am Straßenrand fotografiert wurde und schon gar nicht von wem. War es ein Freund oder ein Fremder? Mit Sicherheit war es kein Profifotograf, denn dazu ist das Bild zu unscharf. Bleibt der Eindruck, den auch das kleine Bild charakterisiert, nämlich Einöde und unendliche Einsamkeit. Die Zeit ist stehen geblieben, was durch die Tatsache, dass der vermeintliche Film ein Standbild ist, unterstrichen wird. Hier bekommt das Wort „Unendlichkeit“ das volle Ausmaß der Unveränderlichkeit und der Langeweile. Ironie der Geschichte: Die Stadt Prybjat zählte 48.000 Einwohner, als sich am 26. April 1986 der Super-Gau im nur vier Kilometer entfernten Kernkraftwerk von Tschernobyl ereignete. Von diesem Tag an wurde sie zur Geisterstadt, für Millionen Jahre verseucht. Im Erinnerungsfoto der Installation von Drenkwitz und der Geschichte des Ortes an dem es aufgenommen wurde, gewinnt On Kawaras „one million years after“ einen furchterregenden Realitätsbezug.
In dieser Installation stehen sich zwei Realitäten gegenüber: Die Projektion spricht von einer wahren Begebenheit an einem konkreten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt, der allerdings nicht genau auf den Tag genau zurück datierbar ist. Das Bild ist suggestiv genug, um den Zeitpunkt in der entbehrungsvollen Zeit des Krieges in den unendlichen Ebenen Russlands zu fixieren. Aber mehr ist dieser Realität nicht abzugewinnen. Demgegenüber steht der Betrachter, der sich als eine anonyme Person von heute auf die Bank setzt. Er wird, um seine Neugier über das Werk zu befriedigen, aufgefordert mit ihm in Interaktion zu treten. Die Situation, die er auf der Bank einnimmt, ist die des Akteurs auf der Bühne. Er wird in gewisser Weise durch das Bild und die Inszenierung konditioniert. Diese herbeigeführte Realität ist die der Bühne. Das Medium Film und das Medium Theater werden dialogisch und gleichwertig innerhalb des Mediums Kunst gegenübergestellt.
30. Januar 2011