Was Ist Kritik?
Was Ist Kritik?
Interview von Julia Dissel mit Dr. Danièle Perrier
1. Was versteht man eigentlich unter Kunstkritik?
Kritik allgemein bedeutet die Fähigkeit zu unterscheiden, begründet über ein System, Sachverhalte oder Kunst zu urteilen. Das setzt voraus, dass es Kriterien der Beurteilung gibt. Diese wiederum sind historisch bedingt und wandeln sich im Laufe der Jahrhunderte. Sie hängen von der Wandlung der Gesellschaften und der Schwerpunkte, die sie setzen, ab und zugleich nehmen sie auch Einfluss auf deren Veränderung. Man denke beispielsweise an Jean-Jacques Rousseau und seinem Contrat social, indem er als Erster die Souveränität dem Volk zuspricht und somit der erste Philosoph ist, der den, von der Revolution eingeleiteten, Demokratieprozess einläutet. Kritik setzt Wissen voraus und die Fähigkeit einen bestimmten Sachverhalt auf individuelle Weise zu interpretieren. Subjektivität ist also der Kritik inhärent.
Übertragen auf die Kunstkritik heißt das, dass der Kunstkritiker über die Entwicklung des Kunstgeschehens bestens informiert sein muss, um über die notwendigen Kriterien zu verfügen, ein Kunstwerk oder eine Kunstrichtung differenziert zu beurteilen. Es geht darum die Stellung eines Kunstwerks welcher Art auch immer – Bild, Musik, Literatur, Performance, Video, Film, Installation etc. – oder einer Kunstrichtung im Rahmen des Zeitgeschehens zu beurteilen, festzustellen inwiefern es sich in einer bestimmten Richtung mitbewegt oder im Gegenteil entschieden dagegen opponiert, sich durch Innovation und Andersartigkeit absondert und neue Kriterien festsetzt. Nicht nur die Literatur setzt Kriterien für neue Gesellschaftsformen, sondern auch die Bildende Kunst und Performance. Man denke an die Fluxus-Bewegung, die Kunst und Leben verbinden wollte, an Hans Haacke, Christoph Schlingensief und Occupy, die Politik und Gesellschaft heftig in Frage stellen, an Andy Warhol, Damien Hirst und Jeff Koons, welche die Konsumgesellschaft anprangern und an Robert Smythson, Donald Judd und Daniel Buren, die unterschiedliche Denkmodelle entwickelt und über neue Kunst- und Lebensideale reflektiert haben und diese teilweise mitgeprägt haben.
Kunstkritik hat viele Ausdrucksweisen, je nachdem wofür sie schreibt. Sie kann spontan, bissig und humorvoll auf das Objekt der Betrachtung reagieren und/ oder das Ergebnis einer tiefen Auseinandersetzung mit der Materie resultieren. Länge und Form hängen davon ab, ob sie für eine Tages- oder Wochenzeitung, eine Fachzeitschrift, einen Katalog oder ein Magazin, oder noch für Online social media geschrieben wird. Die Tageszeitung hat die Mission zu informieren und will zunächst einen spontanen ersten Eindruck auf der Basis von Fakten vermitteln. Schlagezeilen, die sich leicht einprägen, Zahlen, Ziele sowie Erfolg oder Misserfolg sind ausschlaggebende Faktoren. Je gehobener das Niveau der internationalen Tages- und Wochenpresse, desto höher der Anspruch Fakten differenzierter zu interpretieren, zu hinterfragen und mit Randinformationen zu beleuchten. Magazine hingegen, sind meistens darauf ausgelegt, das Interesse eines breiteren, interessierten Publikums zu erreichen und in den Online social media sind die Informationen mit einer Aufforderung zu Diskussionen konzipiert. Bei Fachzeitschriften wie Texte zur Kunst und Lettre International sind fundiert recherchierte, kritische Essays die Regel. Oft werden Fachleute eingeladen, Forscher, die sich auf ein Gebiet spezialisiert haben und einen analytischen, aktuellen Wissensstand vermitteln. Auf diesem Niveau sind in der Bildenden Kunst auch Buchpublikationen, die sich philosophisch mit einer Kunstrichtung auseinandersetzen, zu erwähnen. Damit ist die Frage, wo Kritik anfängt und wo Geisteswissenschaft aufhört, aufgeworfen.
Worin besteht die Aufgabe eines Kunstkritikers?
Egal für welches Medium ein Kritiker schreibt, er muss sich an das Lesepublikum des Mediums für den er schreibt orientieren. Das heißt nicht, dass er sich anbiedern muss und seine Gedanken anpassen soll – ganz im Gegenteil, sein Standpunkt ist wesentlich für die Urteilsbildung der Leser. Es hat lediglich mit der Form, sozusagen mit der Verpackung seiner Gedanken zu tun. Anders als in der Wissenschaft muss der Kritiker auch die Begabung eines Autors besitzen, der seine Leser in Atem hält. Im Idealfall hat er ein breites, fundiertes Wissen, eine schnelle Urteilskraft, eine hervorragende und abwechslungsreiche Ausdruckweise. Er schöpft aus seinem Erfahrungsschatz und beurteilt mit gebührender Distanz das, was er mit feurigem Interesse verfolgt. Je mehr ein Kritiker in die Materie eingelesen ist und wenig bekannte Fakten berücksichtigen kann, desto lebendiger und aufschlussreicher ist seine Kritik. Wie auch immer sie ausfällt – positiv, negativ, nuanciert – sie ist immer das Resultat einer persönlichen, argumentierten Meinung. In diesem Sinne gibt es nicht die Kritik, sondern eine Vielfalt subjektiver Kritiken und dementsprechend auch unterschiedlich in der Qualität.
Wie wird man Kunstkritiker? (Schließlich handelt es sich nicht um einen eigetragenen Lehrberuf?)
Für einen Kunstkritiker gibt es kein vorgeschriebenes Studium. Manche werden als Kultur-Journalisten ausgebildet, andere als Kulturwissenschaftler, noch andere als Kunsthistoriker und Philosophen. Manche sind an Hochschulen tätig, zahlreiche Kunstkritiker sind zugleich Kuratoren und Autoren, andere schreiben ausschließlich für die Presse. In diesem Interview geht es hauptsächlich um Letztere. Kunstkritik als journalistische Tätigkeit berichtet über aktuelle Themen: der Bau eines Museums als Architektur im Dienste der Kunst, eine Ausstellung im Hinblick auf die Wahl der Kunstwerke und ihrer Präsentation, eine Auktion und die Art Basel auf Erfolg, Biennalen als Trendsetter etc… Die Beurteilung betrifft nicht nur das Werk, sondern deren Inszenierung. Unter Inszenierung verstehe ich die gewollte Intention, die eine Präsentation begründet, der Bezug zum Raum, die Auswahl der Werke, eventuelle begleitende Musik, die Implikation des Publikums und vor allem die Relevanz im aktuellen Kontext, kurzum alles, was den Gesamteindruck bestimmt.
Auch für den Kunstwissenschaftler ist die Reflexion der Kunst im aktuellen Kontext wesentlich – er ist sogar die Treibkraft, um nochmals über schon Abgehandeltes zu schreiben. Die beiden Methoden unterscheiden sich jedoch in der Herangehensweise, der Thematik und dem Ziel. Kunstgeschichte nimmt stärker Bezug auf das Interpretieren von Fakten, resultiert aus einer auf Geschichte und Entwicklung basierten Recherche, die sich manchmal über Jahre hin zieht. Sie bleibt näher am Objekt und die Relevanz des aktuellen Kontexts ist ebenfalls auf die neue Interpretation des Objekts selbst bezogen. Die Kunstkritik ist interpretativer, vielleicht auch kreativer und darf auch subjektiver sein. Übrigens kann eine und dieselbe Person bei entsprechender Qualifizierung durchaus sowohl als Kunstkritiker und als auch als Wissenschaftler schreiben.
2. Wie würden Sie die Lage der Kunstkritik in unserer heutigen Kunst- und Kulturlandschaft beschreiben?
a) Nimmt die Kunstkritik angesichts allseits praktizierter monetären Tendenzen überhaupt noch eine relevante Position auf dem Kunstmarkt und für dessen gesamte Protagonisten ein?
Wenn ich heute die internationale Tagespresse aufrufe, dann finde ich durchaus interessante Kunstbesprechungen zu einer Vielfalt von Ausstellungen, Architekturen, Künstlern, Events und über den Kunstmarkt. Dennoch wird immer weniger Raum für kritische Berichte bereitgestellt. Das mag mit den veränderten Lesegewohnheiten zusammenhängen, denn immer mehr Leser suchen Informationen im Netz. Neben Nachrichten, stellen derzeit viele internationale Zeitungen ein wesentlicher Teil ihrer Informationen und Berichte entgeltlos im Netz. Dort findet man sofort weitere, damit verbundene Artikel. Ein besonderer Reiz der Netzkultur mag sein, dass der Leser hier Kommentare abgeben kann, seine Zustimmung, sein Unmut, sein Unverständnis. Das entspricht dem Verhalten einer Mediengeneration, die gewohnt ist in Facebook und Twitter Gefallen und Missfallen zu äußern, Fotos auf Instagram zu posten und mit anderen zu teilen.
Was auch immer der Grund für die Umstellung auf e-paper sein mag, sie hat zur Wirkung, dass immer weniger Firmen Anzeigen in den Printmedien schalten und somit die monetäre Situation der Verlage immer prekärer wird. Manche versuchen dies durch den Verkauf der elektronischen Zeitung faktisch zum gleichen Preis wie die Printversion auszugleichen, andere stellen einen Teil der Informationen ohne Gegenleistung zur Verfügung und bieten manche Artikel gegen Entgelt.
Der monetäre Einbruch scheint weniger den Informationsvolumen zu beeinflussen als die Bereitschaft der Zeitungsverlage fachspezifische Kunstkritiker fix einzustellen. Zum Beispiel hat der Mannheimer Morgen letztes Jahr die Stelle für Kunstkritik abgeschafft. Eine solche, leider verbreitete Haltung, setzt einerseits die zur Freelance Tätigkeit gezwungenen Kunstkritiker unter Druck, andererseits ist diese Entscheidung seitens von Zeitungen gewiss nicht im Sinne der Qualität und es hat Konsequenzen auf den Inhalt. Faktisch werden in der deutschen Presse fast nur noch Großereignisse besprochen – Christos Installation auf dem Iseo See, Michel Houellebecqs Fotoausstellung im Palais de Tokyo und seine Beteiligung an Manifesta in Zürich, die Ausstellung Edouard Manets in Hamburg und noch das Kulturgutschutzgesetz – jetzt, wo das Kind sozusagen im Brunnen gefallen ist. In den Vordergrund treten immer wieder sensationsträchtige Meldungen vom Kunstmarkt – besondere Verkaufserfolge bei Auktionen oder die letzten Trends auf der Art Basel und ihren zahlreichen Ableger. Das heißt, dass die Kritik den Erfolg der Kunst hypt. Der Kunstmarkt wird somit von ihr getragen. Kritik im Sinne einer hinterfragenden Auseinandersetzung des Kunstmarkts, das vielleicht Veränderungen bedingen würde, ist mir in der Presse nicht bekannt.
Was ebenfalls in der internationalen Presse fehlt, sind Besprechungen von kleinen Institutionen, Offspaces und innovativen Galerien, die das Wagnis eingehen Künstler zu zeigen, die noch nicht Hype sind. Man kann von Glück sprechen, wenn diese im Lokalblatt und in den verschiedenen Kunstzeitungen, die in Museen und Galerien zur freien Entnahme liegen, Erwähnung finden. Dabei handelt sich in der Regel um Meldungen, welche die gelieferten Pressetexte nur geringfügig abwandeln und wenn Kritik erfolgt, dann auf einer rein emotionalen Art. So wird die Allgemeinheit sehr einseitig informiert, mit Artikeln, die mit dem Strom fließen, und andere, die nur die Top Ereignisse feiern. Kunstkritik – gute wie schlechte – übt nach wie vor eine relevante Rolle in der Wahrnehmung der kulturellen Ereignisse und damit des Zeitgeschehens in der Kunst. Sie ist Meinungsbildend für die Allgemeinheit und voll verantwortlich für das, was sie säht. Diese Form von Kunstkritik ist allerdings irrelevant für die Künstler selbst im Sinne einer Reibung und Aufforderung zum Denken.
b) Tendenziell ist man in unserer heutigen Welt dem Begriff endgültiger Kriterien und Maßstäbe eher kritisch gegenüber eingestellt. Das gilt natürlich auch für die Kunst. Aber was bedeutet dies für die Kunstkritik, welchen Kriterien darf oder sollte sie sich heute noch bedienen?
Sie haben vollkommen Recht. In seinem Vortrag Unser Zeitalter ist nicht mehr das eigentliche Zeitalter der Kritik – Critique, crise, cri hat Jean-Luc Nancy die Entwicklung des kritischen Denkens in seiner Entwicklung von Kant bis Lyotard analysiert. Er kommt zum Schluss, dass das Problem unseres Zeitalters in Bezug auf Kritik der Mangel an bestimmenden Kriterien ist. Während das 20. Jahrhundert als Jahrhundert der Manifeste in die Geschichte eingehen wird, verebbt diese Form des Postulats einer Abgrenzung gegen frühere Kunstforme
und zugleich als Maßstab für neue Kriterien in den 80er Jahren. Mit der documenta X von Catherine David im Jahr 1997 wird erstmals bewusst, dass Kunst sich nicht nur in Europa und Nordamerika abspielt, sondern zeitgleich und ebenso interessant auch in Süd- und Mittelamerika. Der Titel ihrer documenta Politics weist zudem auf die Bedeutung der Kunst im Zwiegespräch mit der politischen Situation der verschiedenen Länder hin, ja sie ist selbst politisch. Hinzu kommt, dass hier erstmals auf die wesentliche Rolle des bewegten Bildes (Film und Video) in der Kunst des 20. Jahrhunderts hingewiesen wurde. Okwi Enzewor mit documenta11 erweiterte das Blickfeld der Kunst, indem er auch Afrika und Carolyn Christov-Bakargiev Asien mit einschloss. Im Zeitalter des Internets ist die Kunst globalisiert, nicht in dem Sinne, dass alle das Gleiche machen, sondern dass durch Internet alle über alle und alles wissen können. Genau in dieser globalisierten Blickbetrachtung liegt die Schwierigkeit, heute allgemein gültige Kriterien für die Kunst zu entwickeln. Das führt zwangsweise dazu, dass es nicht mehr nur eine maßgebende Tendenz zu einem bestimmten Zeitpunkt gibt, sondern eine Vielzahl an parallelen Kunstrichtungen. Auch die Tatsache, dass Künstler sich verstärkt in Ballungszentren aufhalten – Berlin ist das beste Beispiel dafür – und dadurch dort multikulturelle Kunstzellen entstehen, führt zu einer gleichzeitigen Wahrnehmung unterschiedlicher Kunstauffassungen. Unser Zeitalter steht unter dem Symbol der Pluralität, der Diversität und mir scheint auch einer intensivierten Politisierung der Kunst. In diesem Wust an Informationen und Tendenzen muss die Kunstkritik sich den Weg zu neuen Kriterien bahnen, sie muss sich neu erfinden, wenn sie sich Gehör verschaffen will.
3. Wie ehrlich ist die Kunstkritik von heute?
Tendiert die kommerzialisierte Kunstkritik vielleicht dazu nur noch eine Art Gefälligkeit am Subjekt (Künstler und der eigenen Person) zu werden? Geschrieben wird quasi nur über das was ohnehin gefällt oder über befreundete Künstler/innen?
Der Kunstmarkt könnte ohne die Kunstkritik gar nicht in der Form florieren und umgekehrt etabliert er auch ihre Kunstkritiker. Es existiert eine Wechselwirkung zwischen den beiden. Nicht umsonst engagieren große Galerien namhafte Kunstkritiker für ihre Pressetexte. Das geht Hand in Hand mit einer Kritik, die sich in erster Linie auf Events und renommierte Künstler fokussiert. Wenn ein Kunstkritiker beauftragt wird über eine Ausstellung zu schreiben, dann bestimmt dies den Blickwinkel und es kann sich nur um positive Kritik handeln. Ob es sich um Gefälligkeiten handelt, kann ich nicht beantworten. Das hängt von der Integrität des Kritikers und zum Glück sind es viele. Wahr ist, dass man in der Regel lieber über Künstler urteilt, für die man sich interessiert. Problematisch erscheint mir, dass viele Texte keinen Tiefgang haben, nicht historisch fundiert sind und keine Analyse bieten und dann auch noch unkritisch von der Presse übernommen werden. Wenn Kunstkritiker Kunstideologien schaffen und bestimmte Künstler und Kunstwerke zu einem bestimmten Zeitpunkt im Kunstsystem als ›Kunst‹ kommunizieren, heißt es noch lange nicht, dass diese die Zeit überstehen. Jean-Philippe Domecq entlarvt in seinem Buch die Mechanismen, die zur Meinungsbildung führen und sich im Rückblick als überaltert erweisen .
3.1. Denken Sie die Kunstkritik von heute unterscheidet sich in dieser Hinsicht, also in ihrer Ehrlichkeit und eigenen Kritikfähigkeit, von früheren Formen der Kunstkritik?
Ich denke nicht, dass es prinzipiell eine Frage der Ehrlichkeit ist, sondern eine Frage der Diskursivität. Dort, wo klare künstlerische Botschaften entstehen, gibt es resolute Verfechter des pro et contra. Pierre Restany war eine zentrale Figur für die Entstehung des Nouveau Réalisme. Er war der Wortträger dieser Künstlergruppe und sie waren gemeinsam miteinander verschweißt. Er hat ihre Aktionen begleitet, vielleicht auch angeregt, und sie bekannt gemacht. Später hat Germano Celant in Italien den Begriff der Transavanguardia kreiert und die Künstler bekannt gemacht. Immer wieder waren Freundschaften zwischen Künstlern und Kritikern im Spiel, oder auch Feindschaften. Den Standpunkt, den man vertrat, war immer vehement verteidigt und ehrlich. Auch heute sind Kritiker und Künstler ebenfalls oft befreundet. Was sich geändert hat ist, dass die Kunst der Postmoderne nichts mehr mit „Materialfortschritt“ zu tun hat. Harry Lehmann beschreibt es so: „…, die avancierte Kunst ist heute ästhetisch und konzeptionell zugleich, sie ist werkhaft und prozessual, und sie entsteht sowohl in alten als auch in neuen Medien.“ Das bedeutet für die Kunstkritik, dass auch sie nicht mehr auf die ihr bisher geläufigen Kriterien zurückgreifen kann. Eigentlich kann Kunstkritik in diesem Kontext nur noch in einem Gespräch mit dem Künstler entstehen.
3.2. Gibt es eine Kritik der Kunstkritik? Einen Ort an dem so etwas verhandelt wird? Gibt es ein Ethos des Kunstkritikers?
Es gibt schon lange eine reflexive Kunstkritik, die sich selbst und ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen untersucht. Zu den bekanntesten Kritikern der Kunstkritik gehört James Elkins, der schon 2003 sein Buch What happened to art criticism? publizierte und seither immer wieder adäquate Ausdrucksformen der Kunstkritik in unserem Zeitalter auslotet. Auch der bereits genannte Jean Luc Nancy gehört zu den Prominenten Philosophen, die Mechanismen der Kritik untersucht. Heute mehr denn je stellt sich die Kritik selbst in Frage und wagt neue Experimente. Es wird viel darüber geschrieben und wie verbreitet das Interesse an Kunstkritik ist beweist das Kunstforum, welches 2015 ein ganzes Heft dem Thema widmete. Auf einer anderen Ebene haben der NBK Berlin und die Zürcher Hochschule der Künste ein gemeinsames Symposium zum Thema Was ist Kritik? ausgerichtet und die Situation aus der Perspektive der Philosophie, der Kunstgeschichte und der Kunst analysiert. Derzeit plant Ellen Wagner, ein junges AICA Mitglied, ein Symposium zum Thema Newsflash Kunstkritik? das von der HFG Offenbach getragen im Frankfurter Kunstverein stattfinden wird – übrigens mit der Unterstützung der AICA Deutschland. Die AICA Deutschland wird voraussichtlich das von Sabine Maria Schmidt konzipierte Kurz-Symposium Zensur und Selbstzensur im Kunstbetrieb anlässlich der Mitgliederversammlung veranstalten. Übrigens befasst sich AICA International in ihren jährlichen Kongressen ständig mit dieser Frage. Im letzten Jahr hat AICA London, gemeinsam mit Culture+Conflict, Royal College of Art, London ein Kongress zum Thema Who cares? Value, veneration and criticality veranstaltet und hervorragende Kritiker eingeladen.
3.3. Wie reflexiv und bedacht geht eine Kunstkritikerin wie Sie, die auch Vorstandsmitglied der AICA – des internationalen Vereinigung der Kunstkritiker– ist mit seiner eigenen Kritikfähigkeit um?
Das kommt auf die Aufgabe an. Wenn ich über einen Künstler schreibe, ist es mir wichtig, mir selbst ein Bild seiner Werke machen zu können, sie also kommentarlos zu sehen. Es geht mir um den spontanen persönlichen Eindruck. Ich bin also zunächst mit meinem Grundwissen und dem Kunstwerk alleine. Dann erst führe ich das Gespräch mit dem Künstler, versuche in seiner Gedankenwelt einzudringen, mehr aus seiner Motivation und auch aus seiner Biografie zu erfahren. Erst danach lese ich bereits existierende Texte und spreche mit Personen, die sich gut auskennen. Nur selten schreibe ich über Künstler, deren Arbeit ich nicht schon lange verfolge. Bei Themen wie Was ist Kritik? lasse ich mich zunächst von der Fragestellung leiten und versuche mich so intensiv wie möglich vorzubereiten. Der Besuch eines Symposiums oder die Lektüre eines Buches geben den Impuls zur weiteren Recherche. Die Auswahl der Lektüre schmiedet mein Denken. Ich bin sozusagen eine kritisch reflektierte Synthese der Standpunkte Anderer und meiner eigenen Erfahrung. Nicht meine Meinung im Sinne von Vorlieben und Bauchgefühl sind wichtig – die sind nur Impulsgebend für die Recherche – sondern mein erarbeiteter Standpunkt. Es ist mir auch bewusst, dass ein Standpunkt wiederlegbar ist und ich selbst möglicherweise im Laufe der Zeit zu anderen Schlussfolgerungen kommen kann. Denn Nur im Strom kann man gegen ihn schwimmen. , d.h. dass wir mit unserer Zeit gehen müssen und unsere Gedanken stets revidieren und aktualisieren müssen.
4. Wo sehen Sie die Zukunft der Kunstkritik? Was sagen Sie zu neuen Entwicklungen innerhalb der Kunstkritik also zum Beispiel zu Themen wie Dividualität und Crowd Criticism?
Unsere Zeit wird durch zwei Faktoren bestimmt: Die Demokratie und das Internet. Mai 68 hat die alten patriarchalischen Strukturen, die die Gesellschaft bis dahin bestimmten, aufgeweicht und den Weg zu mehr Demokratie geöffnet, zu flacheren Strukturen. An der Universität wurde damals die Drittelparität lautstark gefordert und weitgehend auch eingeführt, in der Kunst sah man die ersten Künstlerpaare und Künstlerkollektive. Marina und Ulay Abramovic, Fischli/Weiß, General Idea, die Gorilla Girls sind nur ein paar Beispiele. Es dauerte etwas länger bis sich Kunsthistoriker als Duo zur gemeinsamen künstlerischen Leitung einer Institution entschlossen, wie Jean-Paul Felley und Olivier Kaeser im Centre Culturel Suisse de Paris. So gesehen ist es nur eine logische Konsequenz, dass sich auch Kritiker zusammenschließen und gemeinsam schreiben. Der Vorteil bei der Dividualität ist, dass schon in der Entstehungsphase eines Artikels ein Austausch stattfindet, welches der Erweiterung des eigenen Blickfeldes ermöglicht. Es kann also, gerade in noch nicht beschrittene Wege, eine Alternative sein zur Einzelkritik, die es selbstverständlich weiterhin geben wird.
Internet hat das Kommunikationsverhalten der Menschheit extrem verändert und beschleunigt. Jeder hat Zugriff zu Informationen und kommuniziert weltweit mit Gleichgesinnten in Realzeit. Dadurch hat der Mensch als Kollektiv eine neue Macht gewonnen. Das Internet befähigt die Menschheit zur (weltweiten) Mitsprache. Crowd criticism ist eine schlüssige Folge dieser Vernetzungsmöglichkeit und dem Wunsch, nicht nur für eine Elite zu schreiben, sondern sich an jedem, der Interesse hat, zu wenden und ihn auch zu Wort kommen lassen. Crowd criticism wie auch Dividualität sind charakteristische Erscheinungen in Umbruchszeiten, die nach kreativen Ausdrucksformen und Inhalten suchen.
In einer Zeit, in der Künstler Kuratoren sind und Kuratoren für sich den Anspruch erheben, mit ihren Texten und Ausstellungstechniken neben dem Künstler gleichwertig kreativ zu sein, kann ich mir vorstellen, dass eine Kritik, die das Denken und Wirken von Künstlern beeinflussen möchte, an dieser Stelle ansetzen sollte.
Danièle Perrier
Bibliographie:
Jean-Luc Nancy, Unser Zeitalter ist nicht mehr das eigentliche Zeitalter der Kritik – Critique, crise, cri (Übersetzung Esther von der Osten, Vortrag im Rahmen des Symposiums Was ist Kritik?, NBK Berlin, gehalten am 28. Januar, HAU Hebbel am Ufer , HAU I Der Vortrag wird vom NBK publiziert werden. (Manuskript)
Jean-Philippe Domecq, La comédie de la critique, 30 ans d’art contemporain, Agora Pokett 2015
Harry Lehmann, Zehn Thesen zur Kunstkritik, in: Autonome Kunstkritik, Berlin, Kadmos 2012, S. 13
SWR 25 Jahre Texte zur Kunst, Kunstkritik heute, Kulturgespräch am 10.11.2015 mit Isabelle Graw
James Elkins, The Impending Single History of Art (book project), Chapter 03 Are Art Criticism, Art Theory, Art Instruction, and the Novel Global Phenomena?, http://www.jameselkins.com/index.php/experimental-writing/251-north-atlantic-art-history
Symposium “Was ist Kritk”, NBK Berlin (6./7. Februar) und Zürcher Hochschule der Künste (1./2. April 2016) moderiert von Markus Steinweg
Martin Seel, Theorien, Frankfurt a. M. 2009