Kunst und Technik
FIDENA 99, 23-25. April 1999
Kunst und Technik im Dienste der Wahrnehmung der Wirklichkeit
Im Rahmen des „Figurentheaters der Nationen“ (FIDENA) wurden Werke von Ursula Neugebauer, Monika Fleischmann und Wolfgang Strauß, sowie von Stelarc gezeigt. Sie vertreten drei Positionen der Bildenden Kunst, die auf unterschiedliche Art und Weise einen Bezug zum Theater herstellen. Man möchte hinzufügen, ganz speziell zu jener Gattung des Theaters, mit welcher sich die FIDENA befasst, nämlich des Figuren-, Objekt und Puppentheaters, d. h. mit einer Theatersparte, die Tricks und Technik als zentrales Ausdrucksmittel bevorzugt und das Simulacrum benutzt. In diesem Zusammenhang verquickt sich die Geschichte des Theaters mit jener der Skulptur in Bewegung, von den Automaten der Antike bis zu den Robotern von heute. Die Puppe, die Marionette, der Automat, sind lebende Skulpturen, lebendig gewordene Phantasien, Wirklichkeit gewordene Wünsche. Eines verbindet sie über die technischen Unterschiede hinaus: Sie sind ausführende Organe, die das leisten, wofür sie programmiert werden. In gewissem Sinn biegen sie sich den Wünschen ihrer Schöpfer. So mag es kein Zufall sein, dass viele Automaten weibliche Gestalt annehmen. Zu den bekanntesten Beispielen gehört die Skulptur Galatea, in die sich ihr Schöpfer Pygmalion verliebt und von Athena verlangt, dass sie ihr Leben einflößt. In Anlehnung daran erschafft E.T. A. Hoffmann seine Olympia, die in Offenbachs „Hoffmans Erzählungen“ wieder auftaucht. Während Olympia eigenständig zu denken anfängt und gegen die Wünsche seines Schöpfers opponiert, schafft Villiers de l’Isle Adam mit Sowana in „L’Eve future“ ein Bild der idealen Frau. In seinem Film „Metropolis“ verleiht Fritz Lang dem ersten Roboter die Züge der liebenswürdigen Maria; In Wirklichkeit aber handelt es sich um ein teuflisches Weib, das in böser Absicht statt der echten Maria auftritt, als unerkanntes Substitut. Mehr als alle andere verkörpert der Roboter, der Marias Gestalt annimmt, die Essenz des Automaten. Er ist ein ausführendes Organ, fremd gesteuert und gefügig, der nach den Vorstellungen seines Schöpfers tanzt. Der Begriff der Manipulierbarkeit erscheint im Zusammenhang mit den ausgestellten Werken von besonderer Bedeutung, weil der Mechanismus der Manipulation, um effektiv zu wirken, verschleiert bleiben muss. Nur so kann im Theater das Magische, das Teuflische, das Phantastische dargestellt, eine Scheinwelt glaubwürdig gemacht werden, nur so können Bilder erschaffen werden, deren Aussagekraft so stark ist, dass sie abstrakte Begriffe vorstellbar werden lassen. Das Bedürfnis, philosophischen Inhalten eine sichtbare Erscheinungsform zu geben, führte bereits in der Antike zur Erkenntnis, dass der Mensch allein als Darsteller nicht ausreicht. Durch Heron von Alexandria erfahren wir, dass in den Mysterienspielen der Antike der Part der Götter durch Automaten
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gespielt wurde. Aus unserer heutigen Perspektive mag dies verwundern. Doch damals galt: wer groß und mächtig ist, muss auch entsprechend dargestellt werden. Mit anderen Worten: Die Größe einer Gestalt entschied über ihre Bedeutung. Daher mussten Götter größer als ihre Geschöpfe die Menschen und der Kaiser größer als seine Untertanen sein. Deshalb konnten sie nicht von Menschen dargestellt werden. Man baute daher Maschinen, die groß und mächtig waren und ließ sie auf Schienen schreiten. Diese Mechanismen bleiben Bestandteil der Requisiten des Theaters und führen dazu, dass im 19. Jahrhundert der Begriff „Deus ex Machina“ den unerwartet glücklichen Ausgang eines Theaterstückes bezeichnet. Derartige Mechanismen treten auch in modernen Inszenierungen auf, z.b. in Achim Freyers Inszenierung des „Messias“ (1985), in der eine überdimensionale Hand über die Bühne schwebt als Bedeutungsträger für den Willen Gottes. Technische Mechanismen sind im Theater fast immer am Werk und versuchen in den meisten Fällen möglichst unauffällig zu bleiben. Die technischen Möglichkeiten haben sich im Laufe der Zeit stark verändert, allerdings auch unser Anspruch an Glaubwürdigkeit. Ein Blick auf die Präzision der drei Automaten der Gebrüder Jacquet-Droz1 aus dem 18. Jahrhundert genügt, um zu begreifen, dass sie ganz andere Ansprüche an die Glaubwürdigkeit erfüllen als die Automaten der Antike. An diesem Punkt möchte ich die Installation von Ursula Neugebauer vorstellen, die seit ihrem Studium an der Kunstakademie bei Timm Ulrichs in Münster lebt und arbeitet. Ursula Neugebauer präsentiert eine Installation mit sieben festlichen Abendkleidern aus rotem Taft unter dem Titel „Tour en l’air“. Auf deutsch übersetzt heißt der Titel „Drehung in der Luft“ und bezeichnet eine Figur im klassischen Ballett. Die Assoziation mit dem Ballett setzt sich fort, wenn die langen Roben nacheinander anfangen sich um die eigene Achse zu drehen, zuerst langsam, dann immer schneller, sodass die Roben sich aufbauschen, Körper annehmen und wirbeln wie lichterlohe Erscheinungen. Zusammen inszenieren sie eine Choreographie, die an DIE Kreiselbewegungen der tanzenden Derwische erinnert. Beim ersten Anblick ist man geneigt, sie als moderne Version jener Automaten zu interpretieren, die aus der Männerphantasie geboren, die Weltliteratur bevölkern. Doch die Bezüge zu den alten Automaten beschränken sich auf Allgemeinheiten, wie die Tatsache, dass sie durch einen Motor gesteuert werden. Schon hier wird der Unterschied deutlich, denn der Mechanismus wird zur Schau gestellt. Die Manipulation wird dadurch offenkundig. Manipulation als ein Mechanismus der Macht wird bewusst an den Tag gelegt. Der Motor ersetzt den Kopf. Er steuert die Handlung und übernimmt die Funktion des Hirnes. Es geht sogar soweit, dass die Puppen – Schaufensterpuppen ohne Kopf und Glieder - an ihn aufgehängt sind, sodass sie den Boden der Realität nur streifen. Statt grazile Körper sehen wir nur Hüllen, attraktive rote Roben, anziehend, erotisch in Materialität und Farbe, aber keine Menschen. Es ist, als wolle Ursula Neugebauer die Klischees einer Gesellschaft die dem äußeren Schein mehr Wert beimisst als ihrem Inhalt, aufdecken. Zugleich bewegt sich die Installation zwischen Darstellung und Abstraktion, sodass das Fehlen der Figur eine Konzentration auf die Mechanismen, denen ein Corps de Ballett unterliegt, konzentriert. Denn Choreographie setzt seitens des einzelnen Darstellers bedingungslose Unterordnung voraus. Die scheinbar unabhängig voneinander tanzenden Roben verkörpern im wahrsten Sinn des Wortes
1 Abbildung in: Artstudio 22, La sculpture en mouvement, Paris 1991, S. 25
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die Individualität des Ausdrucks einer jeden Tänzerin, die selbst ganz hinter ihrer Darstellung verschwindet. Die Installation wirft damit die Frage nach den Möglichkeiten der individuellen Ausdrucksmöglichkeit in einer, durch das Ballett verkörperten, genormten Gesellschaft auf. Dies bildet den Übergang zum Leitmotiv des diesjährigen Festivals, das sich mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit und umgekehrt auch mit der Wirklichkeit der Wahrnehmung befasst. Daher sei als Übergang zu den Werken, die Virtualität der Realität erstmals in der FIDENA vertreten, die Frage gestellt: Wie wirklich ist die Wirklichkeit des Theaters? Das Theater zeigt ja bekanntlich nicht die Realität, sondern es setzt Teilaspekte einer möglichen Wirklichkeit in Szene. Es lässt eine Welt der Vortäuschung entstehen, die Lebenssituationen nachstellt, mit dem Ziel, eine andere, unsichtbare Wirklichkeit wahrnehmbar zu machen. Doch bei der Präsentation eines Stückes handelt es sich immer nur um eine mögliche Interpretation, deren Auslegung vom subjektiven Standpunkt des Regisseurs und der Schauspieler abhängt. Das erklärt auch wieso wir nie müde werden, ein klassisches Theaterstück immer wieder aufs Neue zu erleben und wieso die großen Mythen auch Künstler von heute immer wieder zu neuen Auslegungen inspirieren. Die Arbeit „Liquid Views“ von Monika Fleischmann und Wolfgang Strauß, die sich mit dem Mythos von Narziss befasst, ist ein gutes Beispiel dafür. Ein interessanter Standpunkt in der Interpretation dessen, was uns das Theater vor Augen führt, vertritt Pierre Klossowski, der Bruder von Balthus, der Philosoph, Schriftsteller und bildender Künstler in einem ist. Er vertritt die Ansicht, dass Leben und Theater im Verhältnis zur absoluten Wahrheit nur Trugbilder bieten, denn alles, was nicht die volle Wahrheit ist, ist Trug. Demnach ist Theater nur Simulacrum, Vortäuschung falscher Tatsachen, und das Leben selbst ein Welttheater. In diesem Sinne begreift er seine eigenen monumentalen Zeichnungen als theatralische Inszenierungen. Auch wenn das Theater nur Trugbilder produziert, sind diese von lebenswichtiger Notwendigkeit geprägt. Da sich nämlich die Wahrheit selbst nicht darstellen lässt, kann sie nur durch Teilaspekte erfasst werden. Wer die Wahrheit sucht, kann sich nur ein subjektives Bild von ihr aus vielen Teilaspekten zusammen schmieden. Daher erfüllt jeder Wahrheitskern das Leben mit seiner Präsenz und gibt ihm Gestalt. Klossowski anerkennt somit die Macht der Vorstellungskraft als Leben spendende Energie, die es versteht durch Lug und Trug Abstraktes zu verbildlichen und Phantasien ins Leben zu rufen. Wenn alles nur Simulacrum ist, kann das Phantastische gleichwertig neben dem realistischen Bild, der Mythos und die Allegorie neben der Alltagszene bestehen. Indem Klossowski nicht differenziert zwischen Bild und Abbild, erhebt er indirekt den Anspruch auf die Überlagerung von Realität und Wirklichkeit und leitet zur Kernfrage der neuen Technologien über.2 2 zu dieser Frage hat sich Pierre Klossowski unter anderem in „la Ressemblance“ auf Deutsch unter dem Titel „Die Ähnlichkeit im Verlag Gachnang & Springer, Bern-Berlin 1986 erschienen und auch in „Le Bain de Diane“, nrf Gallimard, Paris 1983. Dazu siehe auch meinen Aufsatz "Zum Beispiel: Pierre Klossowski, Diana und Aktaion„, in: Kunst und Unterricht, Heft 228, Dezember 1998, S. 45ff.
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In ihren beiden Arbeiten „Liquid Views“ und „Rigid Waves“ beschäftigen sich Monika Fleischmann und Wolfgang Strauß ebenfalls mit der Frage nach Schein und Sein. „Liquid Views“ setzt den Narziss-Mythos von Ovid neu in Szene, „Rigid Waves“ jenen von „Echo“. Beide Installationen befassen sich mit der Spiegelsymbolik von fiktiven Körpern. Bei Ovid verliebt sich Narziss in das eigene Bild, das sich im Wasser spiegelt, im Glauben es sei ein Du, bis er sich selbst erkennt. In „Liquid Views“ ist Narziss nicht mehr eine schöne Jünglingsgestalt aus der Antike, ein ferner Mythos über die Verliebtheit in das eigene Bild. In der digitalen Wasseroberfläche spiegelt sich der Betrachter selbst, so wie er ist und lebt. Sein Abbild bleibt solange bestehen, bis er, von Neugier gepackt, seine Berührungsangst überwindet und das Wasser des digitalen Brunnens berührt. Mit Sensoren ausgerüstet, produziert dieser sofort Wellen, die - je nach Persönlichkeit des Betrachters - sein Ich-Bild verzerrt oder sogar vernichtet. Ein tieferes Eindringen mit dem Trugbild wird in beiden Fällen verweigert. Echte Kommunikation mit sich selbst oder mit anderen erfordert die Auflösung der eigenen, festgefahrenen Vorstellungen. Die Trugbilder müssen zerschlagen werden. Es ist bezeichnend, dass der Betrachter sich nur im kleinen, interaktiven Monitor sieht, aber keine Möglichkeit hat, sich auf der großen Wandprojektion, auf der ihn die anderen sehen, sich mit anzuschauen. Sinnbildlich gesprochen sucht er sich im virtuellen Brunnen der Erkenntnis, während seine Ausstrahlung nur von der Umwelt wahrgenommen wird. „Rigid Waves“ befasst sich mit der Visualisierung der Geschichte von Echo. Die Nymphe Echo, die Jupiter bei seinen Seitensprüngen half, indem sie Juno unterhielt, wurde von der erzürnten Göttin dazu verdammt nur dann zu sprechen, wenn sie angesprochen wurde und nur durch die Wiederholung der letzten gesprochenen Worte zu erwidern. Sie lebte daher zurückgezogen und verfolgte heimlich Narziss, in den sie sich verliebt hatte. Da er ihre Liebe verschmähte, wurde sie allmählich körperlos und fristet seither ihr Leben als Schattenfigur in tiefen Tälern, wo sie den letzten Worten der Besucher ein Echo gibt. In ähnlicher Weise wie das Echo den Klang, verheddert das interaktive Wandbild die Bewegungen des davor gestikulierenden Betrachters. Dieser sieht sein Spiegelbild nur in abgehackten und zeitlich versetzten Bewegungsabläufen, die die verstellte Klangwiedergabe des Echos versinnbildlichen. Tritt ein Betrachter zu nahe, so zerschlägt sich sein Bild in tausend Splitter. In anderen Fällen löst sich sein Bild in verschwommene Impressionen auf. Vom kunstgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet knüpfen beide Installationen an verschiedene Stile an. „Liquid Views“ romantische Inszenierung knüpft an die Symbolik des Präraphaeliten Burne-Jones3 an, „Rigid Wawes“ hingegen benutzt das Vokabular des Impressionismus. In beiden Installationen wird der Betrachter zum Akteur des Geschehens. Ohne sein Zutun passiert nichts. Die Interaktion zwischen dem aktiven Zuschauer und dem Kunstwerk führt zur Überwindung räumlicher Distanzen zwischen dem Bildschirm als Darstellungsebene und dem realen Raum in
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welchem der Betrachter ist. Damit erweitern Monika Fleischmann und Wolfgang Strauß das Postulat von Antonin Artaud, der im „Théâtre et son double“ das Publikum auffordert, aktiv am Bühnengeschehen teilzunehmen. Im Bereich des Klanges war bereits Anfang des Jahrhunderts der amerikanische Komponist Charles Ives bestrebt, das Raumvolumen des Klanges durch eine räumliche Verteilung der Musiker an verschiedenen Stellen des Raumes wahrnehmbar zu machen. Der Zuhörer wurde nicht länger frontal mit dem Klangkörper konfrontiert, sondern inmitten eines Klangraumes eingebettet. Während sich der Zuhörer bei Ives noch passiv verhielt, forderte John Cage mit seiner Klanginstallation „33 1/3“ 4den Besucher zur aktiven Gestaltung seiner Klangcollage auf: Die Installation besteht aus dreizehn Plattenspielern und hundert Schallplatten ohne Beschriftung. Die Musik wird ausschließlich durch Interaktion erzeugt. Dabei handelt es sich um eine Klangcollage, welche den Gesetzen des Zufalls folgt: der Anzahl der Mitwirkenden, der blinden Auswahl der Platten, der Menge der bespielten Platten, dem Zeitpunkt an welchem eine jede Platte zu musizieren beginnt. Hinzu kommt das „Ob“, „Wie“, „Wann“ die Besucher mitwirken oder nicht. Dies impliziert, dass die Zeiten der Stille als wesentliches Element seiner Komposition anzusehen sind. Die Berührungspunkte der Klanginstallation „33 1/3“ von Cage mit der neuesten Installation von Fleischmann & Strauß „Murmuring Fields“ sind noch deutlicher. „Murmuring Fields“ (Abb. 2) besteht aus einer Bühne, die mit Sensoren versehen ist. Die Zuschauer werden zu Performern, die durch ihre Bewegungen ein virtuelles Gespräch zwischen den vier Philosophen Vilèm Flusser, Paul Virilio, Joseph Weizenbaum und Marvin Minsky auslösen. Hier wie bei Cage muss der Betrachter zum Performer werden, um die Mechanismen der Installation zu aktivieren, wobei in beiden Fällen der Zufall als dritter Akteur mitwirkt: Der Performer bringt seine persönliche Note ein durch die Art, wie er sich bewegt und mit eventuellen Partnern auf der Bühne und im Netz interagiert. Dennoch: er entdeckt die Sprachcollage, die er, eventuell mit anderen, auslöst und versucht sie zu beeinflussen, allerdings blindlings. Neu ist im Verhältnis zu Cages Installation die Tatsache, dass die Interaktion nun auch zwischen dem realen und dem virtuellen Raum stattfindet. Die reale Handlung der Performer erzeugt am Bildschirm die Erscheinung eines Avatars, d.h. einer visuellen Spur des aktiven Betrachters. „Der Akteur interagiert mit seiner virtuellen Spur wie mit einem imaginären Partner. Sein Körperbild im virtuellen Raum wird durch eine Ästhetik des Verhaltens bestimmt“. (M.F./W.S.) Die Internet Mitspieler sehen nur den Avatar des Performers und können ebenfalls INS Klanggeschehen eingreifen. So kommt es zu einer Überlagerung zwischen Realität und Virtualität, die nicht nur eine neue Ebene der Kommunikation eröffnet, sondern im Hinblick auf das Theater die Begriffe von Bühne und Aufführung neu definiert. Denn die Raumbühne, auf der die zu Akteuren gewordenen Zuschauer spielen, ist nicht identisch mit der virtuellen Bühne der Aufführung. Die Mitwirkenden hingegen sind sowohl im Netz als auf der Bühne, in Realzeit miteinander verbunden. Nach folgenden Satz einsetzen: „Begriffe werden nun sprichwörtlich dehnbar, die Bilder elastisch – selbst die Welt-Bilder.“ (M.F./W.S. in einem Interview vom WDR)
3 In seinem Bild „Das Schreckenshaupt“ verbinden sich Perseus, der das Haupt der Medusa als Legitimation für seine göttliche Abstammung vorweist, und Andromeda, über dem Brunnen der Erkenntnis. Abbildung in: Prärafaeliten, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden23.11.73-24.2.74, S. 275 4 Abbildung in: Ausstellungskatalog „Klangskulpturen - Augenmusik“, Grenzgänge zwischen Musik und Plastik im 20. Jahrhundert, Ludwig Museum im Deutschherrenhaus Koblenz, 1995, S. 65
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Auch der Körper macht keine Ausnahme. Stelarc, ein australischer Performance-Künstler, der sich unter dem Begriff „radical Body art“ vorstellt, verwendet seinen Körper als Ort des Geschehens, dies in sehr diversifizierter Manier. Sein Körper wird zum Schrein, zum Ausstellungsort, wenn ein Endoskop als Miniaturskulptur in seinen Magen eingeführt wird. Organe werden auf einmal zum Innenraum. Diesem Mikrokosmos setzt er einen Makrokosmos entgegen, indem er seinen Körper durch technische Mittel - wie eine dritte Roboterhand, medizinische und Virtual-Reality-Systeme wie im Fall von „Exoskeleton“ (Abb. 3), das im Rahmen der FIDENA vorgestellt wird – aufrüstet und seine Handlungsparameter um die Funktionsmöglichkeiten von Maschinen ausdehnt. Dieser Cyborg führt automatische Bewegungsabläufe aus, die entweder durch Stelarc mittels einer Computersteuerung oder durch Elektroimpulse aus dem Internet ausgelöst werden, unter Ausschaltung der Gehirnfunktion. Man ist geneigt, im Maschinenmenschen Stelarc eine lebendig gewordene Version der Roboter zu sehen, vor allem wie sie die Filmindustrie präsentiert. Mit diesen teilt er die willenlose Ausführung von Befehlen, erscheint aber gleichzeitig mit besonderer Macht und Ausdauer ausgestattet, was ihn unheimlich wirken lässt. Dabei bleibt unklar, wer wen manipuliert: die Maschine den Menschen oder der Mensch die Maschine. In Zusammenhang mit dem Theater erscheint es bezeichnend, dass der Körper des Künstlers nun Schauplatz des Geschehens und Darsteller in Einem wird. Schauplatz in dem Sinne dass sein Körper Behälter – im Fall der Einführung einer Mikroskulptur – aber auch einziger realer Performance-Ort eines im Sinne durch die Ankoppelung ans Internet vernetzten, sprich kollektiven Körpers. Der Einzelne löst sich somit in der Gemeinschaft auf, wird zum Katalysator des Geschehens, ein kommunizierender Leib im wörtlichen Sinn des Wortes. Abschließend lässt sich feststellen, dass im Zuge der Globalisierung die Anfang des Jahrhunderts in Ansätzen vorbereitete Verquickung der verschiedenen Kunstsparten – bildende Kunst, Musik, Sprache, Theater, einschließlich der Neuen Medien – immer stärker ineinander greift. Durch das Aufbrechen der gewohnten Seh- und Hörweisen werden neue Wahrnehmungsformen und Erfahrungswerte ermöglicht. Allmählich wird der Begriff von Betrachter in Performer oder Mitwirkender verwandelt, jener der Bühne als Raum des Geschehens im Sinne einer erweiterten Erlebnisplattform vergrössert, der reale und der virtuelle Raum als eine Einheit betrachtet. Dabei ist der Zufall ein wichtiger Mitgestaltungsfaktor. Dementsprechend wird auch die Aufführung durch Spiel- und Verhaltensregeln ersetzt, die ein vollkommen offenes Zusammenwirken ermöglichen. Die Skulpturen-Avatare bewegen sich, der menschliche Körper wird zum Cyborg. Diese neue Plattform schafft beinahe unerschöpfliche Möglichkeiten der Selbsterfahrung und der Kommunikation, die dem Verlust der Identität und der sinnlichen Erfahrung entgegen steuern. „Die Auflösung alter Ordnungen und die Umwertung aller Werte mag dem Einen orientierungs- und bindungslos machen; dem Anderen aber werden Freiheiten eröffnet, die man zuvor nicht einmal zu träumen wagte.“5 5 Fleischmann & Strauß, aus einem Interview für den WDR 6
An einem Wendepunkt der Kulturgeschichte angelangt, werden wir in der Lage von Alice im Märchenland versetzt. Bleibt nur der Einladung zu folgen, in die Welt der Phantasie und der unbegrenzten Möglichkeiten einzutreten und sich mit Ursula Neugebauer vorzustellen, „wie groß man sein müsste, neben einem schnell fahrenden Zug langsamen Schrittes zu gehen“.6 Abbildungen: Ursula Neugebauer, Tour en l’air, 1998 Monika Fleischmann & Wolfgang Strauß, Murmuring Fields, 1999 Stelarc, Exoskeleton, 1999 6 Ausstellungskatalog „Ursula Neugebauer, in der Ferne aus der Nähe“, Studiogalerie XIV, Heft 2, 1993, o. S.
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